Ode an den Mut zur Angst
Meist sind unbewusste und/oder unterdrückte Ängste der fundamentale Störfaktor, wenn es darum geht, sein volles Leistungspotenzial abzurufen. Die Rechnung ist ziemlich einfach: Wenn wir Angst haben, geraten wir unter Stress bzw. wenn wir von Stress reden, haben wir nichts anderes als Angst. Ganz egal wie wir es drehen und wenden, Fakt ist:
Wir sind nicht lernfähig, wenn wir gestresst sind - das müssen wir allerdings sein, wenn es um die Implementierung von Agilität und New Work im unternehmerischen Kontext geht.
Wer beginnt, sich mit New Work auseinanderzusetzen, stellt recht schnell fest, dass Buzzwords wie Mut zur Angst und Verletzlichkeit neben Vertrauen, Transparenz und Selbstverantwortung schnell in den Mund genommen werden. Sie werden als sogenannte Querschnittskompetenzen im Basis-Repertoire von Führungskräften und Teams verlangt. Was dabei allerdings allzu gern übersehen wird, dass man Menschen nicht wie Maschinen von heute auf morgen einfach umprogrammieren kann.
Das Problem ist, dass gerade in unserer High-Performing- Business-Welt keiner wirklich zugibt, dass er/sie gerade Angst hat vor dieser oder jener Entscheidung, weil die Konsequenzen nicht absehbar sind. Was wiederum in einer Welt, in der valide Vorhersagbarkeit und deterministisches „Szenario-Denke“ immer noch das Nonplusultra ist, zu skurrilem Businesstheater führt bzw. führen kann. Angst und Verletzlichkeit mit all ihren Facetten sind so ziemlich das unpopulärste Thema, das man in unserer angstfreien Alphatier getriebenen Businesswelt ansprechen kann. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es einfach nicht gelernt ist, gerade in Unternehmen so offen über etwas zu sprechen, das ganz vielen noch nicht einmal in ihren engsten Beziehungen gelingt und voreilig als ein Zeichen von Schwäche ausgelegt wird.
Wenn nun Menschen in Unternehmen zusammenkommen, die alle Experten „in-keine-Angst-haben” sind, dann kann man in Teams ein Phänomen beobachten, das Patrick Lencioni in seinem Modell „Five Dysfunctions of a Team“ als „artificial harmony“ bezeichnet. Dieses Phänomen sorgt in der Regel dafür, dass auf den ersten Blick zwar alle immer im Sinne der Sache total kontrovers und hart diskutieren. Auf den zweiten Blick stellt sich häufig heraus, dass das diskutierte Sachthema nicht das eigentliche Problem ist, sondern nur als ein Vehikel für die persönliche Vermeidungs- oder Kompensationsstrategie bezüglich der eigenen Angst herhalten muss.
Die Transformation zu den New Work Prinzipien, zu agilen Arbeitsmethoden oder sogar zu einer agilen Organisationsform wirft somit Licht in Ecken von Unternehmen, wo lange Zeit kein (manchmal auch nie) Licht war. In diesen Ecken lauern häufig genau diese unbewußten Ängste, die so keiner gesehen hat oder sehen wollte. Diese tief sitzenden Ängste vor Fehlern und das damit verbundene Gefühl von Verletzlichkeit sorgen für Blockaden und verhindern letztendlich, dass an einem Strang gezogen wird. Dabei ist das Problem nicht die Angst selbst, sondern dass wir zu viel von unserer Energie und Kreativität in Vermeidungsstrategien stecken, anstatt sie wirklich für New Work Initiativen zu nutzen.
Deshalb glaube ich, dass gerade im Umgang mit dem Thema Angst der fundamentale Shift passieren muss, wenn Unternehmen damit anfangen, sich ernsthaft mit dem Thema New Work zu befassen.
Business as usual? Lieber anders!
Wer New Work erfolgreich einführen will, muss also mehr tun, als nur Hierarchien aufzulösen und Führungsverantwortung neu zu verteilen: Der Schlüssel zur Transformation in ein selbstorganisiertes Unternehmen liegt:
in der inneren Arbeit und Reflexion des Einzelnen plus
dem offenen Dialog mit anderen und
der daraus resultierenden Qualität der Beziehungen.
Vielleicht hatte die Angst bisher einfach nur eine schlechte PR- und Marketingabteilung?
Es geht NICHT darum, keine Angst mehr zu haben, aber es ist wichtig, sie anders zu betrachten. Der schlechte Ruf, der ihr vorauseilt, hat mit der Idee der Angst in der Natur rein gar nichts zu tun. Irgendwann in der Geschichte der Menschheit muss jemand damit angefangen haben, das „nicht darüber sprechen“ oder „unterdrücken der Angst“ maximal zu belohnen oder, wie man im Unternehmen sagen würde, zu incentivieren. Und so hat sich die Angst zum Mysterium und dem weißen Elefanten im Raum entwickelt:
Alle sehen und spüren sie, aber keiner spricht drüber.
Dabei ist die Ursprungsidee von Angst eine ziemlich beeindruckende und extrem nützliche. Angst ist praktisch der größte Schatz den wir haben, denn ohne sie würde keiner von uns überleben. Nur die wenigsten haben verstanden oder besser verinnerlicht, dass Angst eine Informationsquelle zur Selbsterkenntnis ist. Vielleicht wird jetzt auch klar, dass diese Mechanik nicht ganz zufällig auch häufig das Muster von den Helden unseres gestrigen und heutigen Businessalltages ist. Sie haben, ob bewusst oder unbewusst, gelernt, mit ihrer Angst umzugehen.
Es lässt sich festhalten:
Die bewusste Auseinandersetzung mit Angst kann ein echter Asset sein.
Es wäre jetzt nur etwas zu kurz gesprungen, zu denken, dass man diese Erfolgsstrategie 1:1 übernehmen könnte. Denn damit kann im Zweifel kein Zweiter etwas anfangen kann. Angst und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle sind nicht nur hoch individuell, sondern haben noch nicht mal eine Logik, deren Umgang man in ein Konzept gießt und dann auswendig lernen kann. Sie machen sogar noch nicht mal Sinn, wenn man sie aufschreiben würde. Sie haben keine lineare Ursache-Wirkung- Mechanik und keine objektive Wahrheit, keine nachvollziehbare Kausalketten, kein berechenbares Muster. Also nichts von dem, was wir in unseren Unternehmen und Teams oder in unserem Leben so lieben und so gerne hätten. So vielfältig auch das Phänomen Angst bei jedem Menschen ist, wenn wir Angst einmal »ohne Angst« betrachten, stellt man schnell fest, dass sie zwei Seiten hat: einerseits kann sie uns zwar lähmen und andererseits kann sie uns aktiv machen, denn sie enthält auch den Impuls, sie zu überwinden.
Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt.
Sie lässt uns neue Erfahrungen machen und damit ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung. Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht waren und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Ein solcher Schritt bedeutet immer eine Grenzüberschreitung und fordert von uns Neues, Unvertrautes zu wagen. Das benötigt Zeit und Geduld - beides Aspekte, die in unserer schnelllebigen Zeit zwar populär sind, in der Praxis meist aber keine Berücksichtigung finden.
Das “new” in New Work bedeutet, einfach ausgedrückt, nichts anderes als uns von Vertrautem und Gewohntem zu lösen und etwas Neues in der Zusammenarbeit (Work) auszuprobieren. Wenn man nun diesen Weg gehen will, sollte man sich, neben der Wahrnehmung und Deutung von Angst, mit diesen fünf Fragen beschäftigen:
Wie konsequent will eine Organisation sein, um herauszufinden, wie angstgetrieben ihre Führungskräfte und Mitarbeiter sind?
Welche Angst treibt sie: die Angst vor Fehlern oder die Angst vor dem Unvorhersehbaren? Oder am Ende die Angst, vielleicht nicht mehr dazu zu gehören?
Wie offen können diese “heißen Kartoffeln” im Unternehmen angesprochen werden?
Wie viel Energie und Kreativität investieren sie bisher in die Vermeidung und Unterdrückung von Angst und wofür ließe sich diese Energie und Kreativität rentabler einsetzen?
Und last but not least: welchen Preis ist ein Unternehmen bereit zu zahlen? Lässt sich der ROI überhaupt dafür bemessen?