Der blinde Fleck - „agile“ allein ist kein Allheilmittel

In vielen Fällen werden Scrum und Co. in einem Atemzug mit sog. Changeprozessen erwähnt, in denen „agile“ oftmals als magisches Allheilmittel angesehen wird. Häufig ist es aber so, dass die neu gegründeten Scrum-Teams mit Begeisterung und Engagement starten und schnell mit der Realität konfrontiert werden. Viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, die hoch gesteckten Erwartungen zu erfüllen, wirklich agil zu werden und die erwarteten Vorteile zu erzielen. Woran könnte das liegen?

Hier sind einige meiner Beobachtungen:

  1. Top-down agile funktioniert nicht.
    Viele Organisationen verwenden agile Frameworks mit der gleichen Denkweise, die sie schon immer hatten. Sie ignorieren die notwendigen Veränderungen in der Unternehmenskultur, dem Führungsstil, den Prozessen und der Art der Projektausführung. Zu häufig bleibt das alte, zentralisierte Führungs- und Kontrollsystem des Managements bestehen oder es wird - aus Gewohnheit - mal eben schnell darauf zurückgegriffen. Warum? Wir Menschen brauchen Orientierung und Sicherheit, und beides wird uns durch klare, äußere Rahmenbedingungen gegeben. Wir warten insgeheim darauf, dass jemand kommt und uns die Schwierigkeiten abnimmt, und geben lieber die Zügel aus der Hand, als selbst zu entscheiden. Doch nur durch das Loslassen alter Gewohnheiten und Arbeitsmethoden kann mehr Agilität erzielt werden. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass mehr innere Stabilität und Sicherheit in jedem Einzelnen gefördert werden muss (siehe auch Punkt 3), um als Unternehmen agiler sein zu können.

  2. Agile wirft ein Scheinwerferlicht auf die Dysfunktionen einer Organisation.
    Agile Methoden sollen Teams schneller machen. Diese zusätzliche Geschwindigkeit wird das System aber zunächst stärker belasten und die Dysfunktionen einer Organisation sichtbar machen. Sehr oft sind diese organisatorische Zwänge und Dysfunktionen auch so tief in die Arbeitsweise der Organisation eingebettet, dass selbst die erfahrenste Führungskraft sie alleine nicht beheben kann. Und agile selbst bietet auch keinen direkten Lösungsvorschlag aus dem Lehrbuch, um diese Dysfunktionen zu beheben. Themen, die in der Regel fundamental verändert bzw. neu gelernt werden müssen, drehen sich um zentrale Aspekte wie bspw. KOMMUNIKATION, Entscheidungs-findung, Priorisierung, Ressourcenzuteilung, Durchsetzung von Richtlinien, Leistungs-management und Organisationsstruktur. Das Problem sind nicht die Menschen oder ihre Fähigkeiten, sondern veraltete Strukturen, Praktiken, Strategien und sogar die tief verankerte Unternehmenskultur, die alte Denkweisen und Muster verstärken. Wenn diese an ihrem Platz bleiben, bleibt die weiterhin Beweglichkeit eingeschränkt.

  3. Die Komplexität im Menschen findet zu wenig Berücksichtigung.
    Es geht um mehr als nur die zu bewältigende Komplexität im Außen der Organisation. Es geht auch um die Komplexität der Menschen in der Organisation, die es zu führen gilt. Jede äußere Veränderung von Strukturen und Prozessen muss notwendigerweise von einer inneren Transformation der Menschen im Unternehmen begleitet werden. Unsere Zeiten der exponentiellen Veränderung verlangen nicht nur nach einem neuen Ansatz, der kreative Wissensarbeit fördert, die positiven Effekte von Team-Diversität stärkt und wirksame Selbstorganisation ermöglicht, sondern vor allem einen Ansatz, der die emotionale und kommunikative Agilität jedes Einzelnen fördert. Neue innere Reflexionskompetenzen zum Umgang mit dem eigenen Stressempfinden, Bedürfnissen und Interessen werden beispielsweise notwendig, um selbstorganisiert zu arbeiten. Auch die Art wie Mitarbeiter und Kollegen miteinander umgehen, und worüber sie miteinander, mit Kunden, Geschäftspartnern, aber auch der Unternehmensführung kommunizieren, verändert sich und muss neu gelernt werden.

  4. Scrum und Co. sind Methoden. Agile ist eine Haltung und Denkweise.
    Häufig taucht in diesem Zusammenhang die Frage auf: "Wie sieht die Organisation aus, wenn die Transformation abgeschlossen ist?" Meiner Meinung nach, ist das die falsche Frage. Agile ist kein fester Endzustand, es ist eine Haltung und es wird viel mehr benötigt, um unternehmensweite Agilität zu erreichen und zukunftssicher zu werden. Um mit einer sich schnell verändernden Welt Schritt zu halten, müssen sich erfolgreiche Organisationen als Formwandler bzw. Chamäleons verstehen, die sich jeden Tag wandeln können - immer und überall.

Wahre Agilität ist also viel komplexer. Das Schwierige ist nicht die Einführung einer Methode, sondern dass diese neue Arbeitsweise eine Selbstreflexion, einen Lernprozess und eine Verhaltensänderung jedes Einzelnen erfordert. Ihre Vorzüge können sich nur entfalten, wenn in einem Unternehmen die Balance zwischen (Selbst-)Reflexion und Umsetzung gefunden, verstanden und etabliert wurde. Und dieser Prozess wird niemals abgeschlossen sein, sondern ist fortan durch ein kontinuierliches Lernen von- und miteinander geprägt.

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